Entscheidung am Albristhorn
Wir Männer können manchmal ganz schöne Kindsköpfe sein. Vielleicht lässt uns das nicht immer die besten Entscheidungen treffen.
“Wir gehen zusammen Bergwandern!” So Dr. No am Ende einer anstrengenden Sitzung. “Freundschaft muss man schaffen und eine solche Erfahrung schmiedet uns noch fester zusammen. Unsere Frauen nehmen wir nicht mit, weil die uns nur aufhalten würden.”
Letzteres glaubte ich zwar nicht, aber ich wusste damals noch nicht, was mich erwartete. Persönlich möchte ich solche Erfahrungen, wie das Erreichen eines Gipfels gerne mit meiner Lieblingsfrau teilen. Aber in der Rückschau freue ich mich für sie, dass sie das nicht erleben musste.
Dr. No, Mathias und ich waren zu der Zeit allenfalls Gelegenheitsjogger. Ich kaufte mir eine umfangreiche Ausrüstung zusammen. Es sollte ins Berner Oberland gehen. Also ins Herz der Schweiz. Ich buchte das Hotel und Dr. No kaufte den Wanderführer. “Jetzt steht uns nichts mehr im Weg!”
Bevor wir losfuhren nahm mich die Frau des Unternehmers noch einmal zur Seite: “Du bist der Vernünftige. Ich setze darauf, dass Du nicht alles mitmachst und ihn stoppst!” Ich zuckte mit den Schultern und dachte mir nicht viel dabei.
Klar mache ich nicht alles mit. Aber das war wohl Wunschdenken. Der Dritte im Bunde war unser Steuerberater Mathias. Er ist sehr begeisterungsfähig und liebt das Abenteuer. Also auch kein Bremser.
Vorahnung
In der Schweiz angekommen, wollten wir uns erst einmal akklimatisieren. Daher ging es am ersten Tag auf die berühmte Passroute zwischen Kandersteg und Gemmipass. Das Restaurant bei der Bergbahn nach Leukerbad bietet bei Sonne eine spektakuläre Aussicht. Auf dem Rückweg merkte ich schon eine tiefe Erschöpfung. Insbesondere bergab ins Kandertal war eine arge Schinderei.
Abends im Restaurant, in dem wir unglaubliche Mengen verdrückten, um die Erschöpfung zu kompensieren, stellte uns Dr. No den Plan für den nächsten Tag vor. “Das Albristhorn ist der höchste Berg hier in der Gegend. Das sollten wir schaffen.”
Ahnungslos
Ich hatte damals keine Ahnung, dass Touren unterschiedliche Schwierigkeiten hatten. Blau ist für den normalen Wanderer machbar, rot sollten nur Fortgeschrittene angehen und schwarz ist den gut Durchtrainierten und Schwindelfreien(!) vorbehalten. Was Dr. No uns nicht erzählte: Das Albristhorn gehört zu den drei schwarzen Touren im Wanderführer.
Aller Anfang ist leicht
Am nächsten Tag schliefen wir erst einmal aus. Um kurz vor 11 Uhr hatte uns die Bergbahn am Startpunkt ausgespuckt und wir wanderten in einen sonnigen Tag hinein.
Es war heiß an dem Tag und das Wasser floss in Strömen, genauso wie unser Schweiß. Wir wanderten über Bergwiesen mit teils sehr anhänglichen Kühen. Wir hatten Spaß. Gegen Mittag wurde der Aufstieg steiler und wir merkten deutlich die Höhe.
Stop ‘n go
Alle paar Meter mussten wir anhalten und verschnaufen. Das Cliché vom Städter in den Bergen traf voll auf uns zu. Bei einer Rast klärte Dr. No uns über den tatsächlichen Schwierigkeitsgrad der Route auf. Also ob wir das nicht längst wüssten!
Entscheidung in der Pause
“Das hättest Du uns aber vorher sagen können”, meinte ich. Für einen echten Streit waren wir schon zu müde. “Wir können jetzt noch umkehren und zurück ins Tal wandern. Oder wir gehen noch das letzte Stück und können stolz auf uns sein.”
Das schien etwas für sich zu haben. Wir konnten ja noch gehen, warum sollten wir uns den eigenen Triumph versagen?
Dann ließ uns Dr. No noch durch die Blume wissen, welche Entscheidung er von uns erwartete: “A winner never quits and a quitter never wins” (Ein Gewinner gibt niemals auf und ein Aufgeber gewinnt niemals).
Manipuliert und unbemerkt
Für den Spruch wäre ich fast allein ins Tal zurückgegangen. Denn manipulieren wollte ich mich nicht lassen. Dabei war ich schon manipuliert bis in die Haarspitzen. “Also gut! Packen wir es an.”
Wie sich herausstellte, hatte es dieses kleine Stückchen bis zum Gipfel in sich. Denn wir mussten teilweise in schroffen Felsen herumklettern. Oben angekommen rissen wir die müden Arme hoch und feierten unseren Sieg gegen … ja … gegen die Vernunft.
Inzwischen war es spät geworden und das sollte ein Problem werden. “Wir haben jetzt 15:30. Da wird es sportlich werden, die letzte Bergbahn um 17 Uhr zu erreichen.”
Keine Wahl
Aber beim Abstieg werden wir ja wohl schneller sein, oder? Der Gedanke hat kaum meinen Kopf durchquert, da zeigt Dr. No uns den Abstieg. Oder vielmehr den Abstieg, den Aufstieg, den Abstieg, den Aufstieg und den Abstieg. Denn der weitere Weg führte über einen schmalen Grat über mehrere Gipfel bis wir überhaupt die Chancen hatten, ins Tal abzusteigen.
“Das schaffen wir doch nicht in anderthalb Stunden! Ich weiß noch nicht mal, ob wir das überhaupt schaffen!” Stellte ich müde fest.
“Die Alternative wäre, den gleichen Weg zurückzugehen, den wir hochgeklettert sind.” Das stand außer Frage. Denn das schien noch gefährlicher zu sein als der Weg vor uns.
Also machten wir uns mehr oder weniger im Dauerlauf an den Abstieg über den steilen Grat.
Rückblickend ist es ein Wunder, dass sich keiner ein Bein gebrochen hat. Denn das Gelände war tückisch und wies zahlreiche Trittlöcher auf. Der No sprang wie eine Berggams voraus und wir folgten ihm wie die Lemminge.
Kraft- und mutlos
Als wir schließlich bei der Bergbahn angekommen waren, zeigte die Uhr 17:35 an. Die letzte Kabine war vor einer Stunde gen Tal geschwebt. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen und die Lemminge waren sichtlich am äußersten Ende ihrer Kräfte.
Dr. No ging es dagegen noch relativ gut. Wie sich später herausstellte, hatte er ein besonderes Mineralstoffpräparat genommen, um das sich seine Unternehmensgründung drehte. Uns Lemmingen hatte er vor der Wanderung erzählt, dass sein Prototyp aufgebraucht sei. Eine Lüge! Aber diese pikante Kleinigkeit erfuhren wir erst später.
Die Sache war gelaufen. Bis ins Tal waren es gut 12 Kilometer, wir hatten nichts mehr zu essen und schon lange nichts mehr zu trinken.Wir waren dehydriert und krochen buchstäblich auf dem letzten Zahnfleisch.
Rettung in der Not
Trotzdem brachte es ja nichts, auf sein Schicksal zu warten. Langsam schlurften wir also in Richtung Tal. Da hörten wir etwas, ein Auto.
Wenn wir da mitfahren können, nenne ich Dich fortan “Dr. No der Große!”
Es war ein kleiner Fiat Punto und die beiden Damen erschreckten sich bestimmt nicht schlecht, als ein großer Mann auf die Strasse stürzte, beide Arme weit ausgestreckt! Aber sie ließen sich erweichen, uns drei zusammen mit unseren Rucksäcken und Teleskopstöcken ins Tal mitzunehmen.
Ich weiß nicht, ob sie uns damit das Leben gerettet haben oder uns nur vor ein paar Blasen auf dem Weg ins Tal bewahrt haben. Aber ich bin ihnen bis zum heutigen Tag dankbar.
Welche Fehler haben wir gemacht? Wann hätten wir anders entscheiden können oder sollen? Was denken Sie?
Mehr dazu morgen!