Macht Merkel den Schröder?
Als Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 einen umfangreichen Reformkurs auf den Weg brachte, kostete ihn das die Kanzlerschaft. Da zeigte einer endlich einmal Führung, der sonst nur dem Volk aufs Maul schaute. Kein CDU-Kanzler hätte je ein solch mutiges Reformprogramm auf den Weg gebracht. Denn die linke Opposition hätte Purzelbäume geschlagen.
Erleben wir jetzt das Gleiche mit der Flüchtlingspolitik? Angela Merkels Sommer des Willkommens hätte sich kein Sozialdemokrat leisten können, ohne die CDU in die Nähe einer absoluten Mehrheit zu bringen.
Gerhard Schröder liefen damals die eigenen Wähler in Scharen davon. Noch heute gilt Hartz IV unter den Sozialdemokraten und welter links stehenden Parteien als Verrat an ihrer Sache. Dabei wurden damals Hunderttausende Sozialhilfeempfänger besser gestellt. Was machen jetzt die konservativen Wähler? Aktuelle Umfragen legen eine ähnliche Entwicklung für Angela Merkel nahe.
Obwohl die Öffnung der Grenzen und die Agenda 2010 verschiedene Dinge sind, ähnelt sich die Entscheidungssituation der beiden Politiker. Nach Jahren kompletter Ignoranz der volkswirtschaftlichen Entwicklung war Gerhard Schröder damals klar, dass er etwas tun musste. Es rächte sich, dass einer der ersten Beschlüsse seiner 1998 an die Macht gekommenen Koalition die Aufhebung der zaghaften Reformen der späten Kohlregierung war. Kohl hatte das auch nicht nur aus Jux und Dollerei getan. Auch er stand schon unter dem Druck des Faktischen. Wenn von verlogener Politik die Rede ist, geht heute noch vielen der Klassiker von Norbert Blüm locker über die Lippen: „Die Rente ist sicher“.
Im Jahr 2003 musste sich Schröder dann zwischen Beliebtheit und Vermächtnis entscheiden. Meiner Meinung nach zeigt seine Wahl, dass die vielgescholtene Deutsche Demokratie auch heute noch Spitzenpolitiker mit Verantwortungsgefühl hervorbringt.
Damit sind wir bei Angela Merkel. Auch hier dürfen wir getrost von jahrelanger Verdrängung der wirklichen Situation sprechen. Krieg führt zu Flüchtlingen. Das weiß die Welt seit Anbeginn der Zeit. Immer wieder haben sich ganze Völker auf die Suche nach einem besseren Leben gemacht. Auch heute ist das nicht anders. Wenn ich in mich hineinhorche, sagt mir meine Westeuropäische Prägung: „Das dürft Ihr nicht! Bleibt doch wo ihr heute hungert. Ihr müsst selbst Eure Situation vor Ort lösen.“
Was allerdings würde ich tun, wenn um mich herum die Bomben fallen oder ich tagtäglich meinen geschwollenen Hungerbauch ansehen müsste? Meine Frau weiß es: Ich würde dann gehen, wenn noch keiner geht. Weil ich gerne antizyklisch handle, um nicht in Schlangen anstehen zu müssen. Mit anderen Worten: Wäre ich ein Syrer, dann wäre ich wahrscheinlich schon geflohen, als Assad Syrien noch unter seinem unheilvollen Augenarztdaumen hatte.
Flüchtlinge haben keine Lobby. Denn in ihren Heimatländern können sie nicht wählen. Bei uns auch nicht. Wenn die Deutsche Politik vor zwei Jahren auf die Idee gekommen wäre, eine Luftbrücke für Flüchtlinge einzurichten, hätte es wahrscheinlich schon damals Demonstrationen besorgter Bürger gegeben. Selbst heute würde die Idee wenig Anklang finden. Flüchtlinge müssen sich unser Willkommen durch ihre nackte Not ehrlich verdienen.
Flüchtlinge kosten Geld. Sie sind fremd. Sie sprechen unsere Sprache nicht und geben wir es offen zu, ihre Armut kann einem Angst machen.
Aber zurück zu Angela Merkel. Nachdem sich das Heer der Ungewollten auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte, wurde jedem klar, dass die Dubliner Verträge viel mit schönem Wetter und wenig mit Fairness für die Grenzstaaten der Europäischen Union zu tun haben.
Dementsprechend betreibt Ungarn gegenüber Asylbewerbern und Flüchtlingen eine Politik der Abschreckung. Nach dem Motto: Nutzt Eure Smartphones, um aller Welt mitzuteilen, wie schlecht es Euch bei uns geht. Die Rechnung geht auf. Doch anders als gedacht. Die Flüchtlinge kommen trotzdem, aber sie wollen schleunigst ins Land ihrer Träume weiterreisen: Deutschland.
Angela Merkel wird in diesem August auch an ihr politisches Vermächtnis gedacht haben. Anders als Schröder, klebt sie nicht unbedingt am Kanzleramt. Wenn sie in einigen Monaten zurücktritt, hat sie die freie Wahl zwischen zahlreichen internationalen Ämtern. Für die Welt und für viele Menschen in Deutschland wird sie diejenige sein, die Herz gezeigt hat.
Ich persönlich bin übrigens der Meinung, dass wir Flüchtlinge nicht vermeiden können. Aber wir könnten die Flucht vor Krieg und Hunger besser organisieren. Wir können dafür sorgen, dass die Flucht nicht in Elend ausartet. Sobald eine Region von Katastrophen heimgesucht wird, sollten in den Nachbarländern bereits Flüchtlingszentren eingerichtet werden. Vor Ort wird direkt entschieden, in welches Land der Flüchtling mit seiner Familie kommt. Alle Länder mit einer positiven Handelsbilanz sind verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Danach gibt’s Flugtickets und die Not und das Elend langer Flüchtlingstrecks kann völlig vermieden werden.
Ganz klar: Das wird nie passieren. Aber besser wäre es allemal.
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