Urteilsvermögen – Der Umschlagtest
Gute Entscheider wissen, was sie wollen. Klar! Da nicken wir alle gerne mit dem Kopf und schauen mitleidig auf den Rest der Welt, dem das nicht so geht.
Dabei ist das gar nicht so leicht. Ich stelle immer wieder fest, dass wir uns dabei gerne etwas vormachen. Selbst wenn wir schon eine Vision entwickelt haben. Selbst wenn wir glauben, die Situation richtig einzuschätzen, könnten wir uns etwas vormachen.
Warum?
Unser Urteilsvermögen löst oft nicht so fein auf, wie wir es in unserer Entscheidung von uns erwarten.
Als Strukturierter Entscheider entwickeln wir Kriterien, auf deren Grundlage wir unsere Handlungs-Alternativen einschätzen. Genau dieser Vorgang ist bei vielen allerdings ein reines Ratespiel.
Denn an dieser Stelle treffen wir eine persönliche Einschätzung. Hier wirkt der menschliche Faktor in jeder Entscheidung. Ob wir nun Josef Ackermann heißen oder Hans Müller.
»Ich würde jedes mal wieder so entscheiden!« Was hier wie Kampfspruch klingt, ist selbstverständlich und meistens falsch. Denn reproduzierbare Entscheidungen sind der heilige Gral von uns Entscheidungsspezialisten.
Maß nehmen
Leider scheitert das oft am Entscheider und seinem verwendeten Maßstab.
Eigentlich ist das eine schöne Sache. Wir haben einen Maßstab, legen ihn an und kommen immer wieder zum selben Ergebnis. Zehn Zentimeter sind tatsächlich 100 Millimeter, sind 100.000 Mikrometer und sind 100.000.000 Nanometer.
Halt! Unterhalb von Millimetern streikt unser Sehvermögen. Genau so ist es auch mit unserem Urteilsvermögen. Es hat eine begrenzte Auflösung. Sie ist bei jedem anders. So wie wir teilweise unterschiedlich gut sehen können.
Zu gut gemeint
Trotzdem erlebe ich Entscheider, die einen Maßstab mit Werten von 0 bis 100 aufsetzen.
Wieso sollte das ein Problem sein?
Wir müssen mit unserem Maßstab zuverlässig bewerten können. Das heißt, wenn eine Alternativen für ein Kriterium genau 53 von möglichen 100 Punkten erhält, muss das nicht nur Montag so sein, sondern auch Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag. 😮
Wie sieht es tatsächlich aus? Nicht selten schwanken die Bewertungen dann in einem Bereich von plus/minus 10 Punkten. Der richtige Maßstab wäre also besser in 0 bis 5 Punkte unterteilt als mit der zwanzigfachen Auflösung. 😯
»Mir passiert das nicht! Ich habe ein ausgeprägtes Urteilsvermögen.« Das können wir nicht ausschließen. Allerdings lässt sich auch leicht im Selbsttest herausfinden wie gut es um unser Urteilsvermögen bestellt ist.
Der Umschlagtest
Dazu gibt es den Umschlagtest.
Du brauchst eine beliebige Entscheidung. Nimm Deinen Maßstab, zum Beispiel 0 – 100, wobei bei “100” Dein Kriterium voll erfüllt ist. Bewerte mindestens 4 Alternativen bezüglich fünf verschiedener Kriterien und stecke das Ganze in einen Umschlag. Nach drei Stunden wiederhole die Bewertung und vergleiche sie mit dem Ergebnis im Umschlag. Wenn Du keine 100%-tige Übereinstimmung hast, dann reicht Dein Urteilsvermögen nicht aus, um mit einem so feinen Maßstab zu arbeiten.
Nicht sehr fein
Die Erfahrung zeigt übrigens, dass die meisten Menschen in der Lage sind, mit einem Maßstab von 0-4 zu arbeiten. Das nivelliert zwar die Unterschiede zwischen den Alternativen, dafür kannst Du die Entscheidung so auch jederzeit wieder reproduzieren.
Simulierende Bauchentscheider
Intuitive Entscheider wollen sich mit Maßstäben nicht befassen und theoretisch müssten sie es auch nicht. Doch leider sind wir von vielen Menschen abhängig und müssen unsere Entscheidungen begründen und dokumentieren.
wenn es verlangt wird, machen wir das auch. Wir “simulieren” dann mit ein bisschen Zahlenwerk die Entscheidung, die wir bereits getroffen haben.
Allerdings könnte das allzu durchsichtig sein, weil unser Banker auch weiß, dass Prozentmaßstäbe nicht funktionieren. Also sollten wir uns bescheiden geben und mit Maßstäben arbeiten, die maximal von 0 bis 10 gehen. 🙂
Recycling
Wenn wir also demnächst keine Umschläge mehr brauchen, weil die Epost so gut funktioniert, bleibt noch die Zweitverwertung als Test für unser Urteilsvermögen. 🙂
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